Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – Bei der Arbeit?

Der Parthenon-Tempel in Athen vor blau-wolkigem Himmel.

Mitsprache, Eigenverantwortung und Agilität – das macht den direktdemokratischen Föderalismus in der Schweiz so erfolgreich. Doch können auch Unternehmen von diesem Modell profitieren? #LernendeOrganisation #Selbstorganisation

Jährlich am 1. August feiert die Schweiz sich selbst und ihr Erfolgsmodell des direktdemokratischen Föderalismus. Von Napoleon auferlegt und als natürliche Organisationsstruktur für die Schweiz gepriesen, wurden die subsidiäre Machtverteilung und direkte Mitsprache auf allen Ebenen zu einem Wesensmerkmal des prosperierenden Kleinstaats. Doch kann dieses Modells auch auf Unternehmensebene zu Erfolg führen? Und wenn ja, wie?

Bevor wir diese Fragen klären können,  müssen wir zuerst die Funktionsweise des föderalistischen Organisationsprinzips näher betrachten. Der Grundgedanke ist einfach: Entscheidungen und Vereinbarungen werden dort getroffen, wo sie anfallen. Alles, was den Rahmen beziehungsweise die Kompetenz dieser Ebene übersteigt, wird an die darüberliegende delegiert. Konkret bedeutet das, dass die Abfallbewirtschaftung von der Gemeinde organisiert wird, der Regionalverkehr vom Kanton und die Aussenpolitik vom Bund.

Der Vorteil dieser Gliederung: eine gleichberechtigte direkte Mitsprache der Betroffenen und damit verbunden die Übernahme von Verantwortung. So stehen die Fragestellungen jeweils in einem angemessen direkten Bezug zur eigenen Erfahrung und Einflussnahme. Das heisst, ich kann zwar über ein neues öffentliches Schwimmbad in meiner Wohngemeinde mitbestimmen, aber nicht über einen neuen Lehrplan im Nachbarkanton. Diese Aufteilung ist dynamisch und wird laufend neu ausgehandelt.

Diese direkte Form der Mitsprache führt bisweilen zu einer gewissen Schwerfälligkeit bei der Entscheidungsfindung. Das bedeutet aber nicht, dass langsam gereifte Entscheidungen automatisch in Behäbigkeit resultieren, sondern im Gegenteil in nachweislicher Innovationsstärke, die mitunter in geradezu visionäre Ergebnisse wie den rekordlangen Gotthard-Basistunnel mündet. Dabei sichern Föderalismus und direktdemokratische Mitsprache die nötige Ausgewogenheit und gesellschaftliche Akzeptanz, welche am Ende über den Erfolg eines Unterfangens entscheiden.

Föderalismus = ein Modell auch für Unternehmen?

Nun ist ein Staat kein Unternehmen und manche Dinge verhalten sich in den beiden Kontexten gerade gegensätzlich. Dennoch bestehen auch Parallelen und die Frage stellt sich, ob sich nicht gerade im Bereich der demokratischen Mitsprache und der Strukturierung der Entscheidungsgewalt die eine oder andere Lehre übertragen lasse.

Kurz zum geschichtlichen Hintergrund der betrieblichen Organisationsentwicklung: Im frühen 20. Jahrhundert führten die Entstehung und Strukturen der aufsteigenden Industriegesellschaften zu einem Organisationsprinzip budgetgesteuerter Machthierarchie. Bis heute prägt es die überwiegende Mehrheit der Kapitalgesellschaften sowie die Zusammenarbeit und Entscheidungsprozesse öffentlicher, gemeinnütziger sowie in Familienbesitz befindlicher Organisationen.

Die budgetgesteuerte Machthierarchie definiert sich über die Trennung von Planung und Ausführung sowie die pyramidale Gliederung der Entscheidungsgewalt, welche vom an der Spitze stehenden Stellvertreter der Eigentümerschaft ausgeht. Das Verhalten der Mitarbeitenden wird durch Befehl und Kontrolle gesteuert, dem sogenannten «Command and Control». Bemerkenswert ist dabei die uneingeschränkte Herrschaft jede* Vorgesetzten über alle darunter liegenden Stufen hinweg. Insgesamt also etwas, das als Gegenentwurf zum direktdemokratischen Föderalismus gelten könnte.

«It is the job of management in the 21st century to make the knowledge worker productive»—Peter Drucker

In der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts zeigen sich zunehmende Mangelerscheinungen dieser Organisationsform, die Organisation aller Form und Grösse erheblich zu schaffen machen. Die Bürokratie zentralisierter Strukturen bremst die Schaffenskraft und den Gestaltungswillen der bestens ausgebildeten Expert*en, um deren Gunst und Anstellung man sich auf dem Arbeitsmarkt nach Kräften bemüht. Die Organisationen und ihr Management versäumen es, das Potential an Produktivität und Innovationskraft ihrer Belegschaft zum Tragen zu bringen.

Noch schwerer als dieser direkte Verlust wiegt dabei die Auswirkung auf die Mitarbeitenden selbst: Rasch weicht der anfängliche Enthusiasmus einem Gefühl unausweichlicher Wirkungslosigkeit und Machtlosigkeit gegenüber einem undurchdringlichen Gewirr von Abhängigkeiten, von denen viele aus dem eigentlichen Inhalt der Arbeit nicht erklärt werden können. Sagenhafte 85% der Angestellten in der Schweiz fühlen sich mit ihrer Arbeit nicht verbunden und schieben Dienst nach Vorschrift. Fluktuationsraten jenseits der 20% in vielen Betrieben belegen eine Unverbindlichkeit der Zusammenarbeit, die es annähernd verunmöglichen muss, als Organisation zu lernen.

Gleichzeitig sehen sich Führungskräfte der unlösbaren Aufgabe gegenüber, die anspruchsvolle Arbeit ihnen unterstellter Fachleute nicht nur zu organisieren, sondern auch zu bewerten und verbessern. Das Bewusstsein wächst, dass die machthierarchisch organisierte Form der Arbeitsorganisation den Anforderungen des Informationszeitalters nicht mehr gerecht wird.

Erste Schritte in Richtung gleichberechtiger Zusammenarbeit?

Besonders ausgeprägt zeigte sich das Problem vor Jahrzehnten in der Informatik. Erste Pioniere begannen schon in den sechziger Jahren, die arbeitsteilige Organisation der Softwareentwicklung zu hinterfragen. In den neunziger Jahren entstanden erste adaptive und iterative Prozessmodelle. Ab 2001 begann man, diese als «agile Methoden» zu bezeichnen. Scrum und eXtreme Programming sind heute Haushaltnamen, hinzu kamen Kanban, DevOps und weitere. Sie alle zeichnet aus, dass selbstorganisierte Teams mit einem hohen Mass an Unabhängigkeit in kurzen Zyklen neue Versionen radikal am Kundenbedürfnis ausgerichteter Dienste entwickeln.

Geschichtlich schon etwas früher entstand in den Niederlanden die Soziokratie als Methode einer dynamischen Organisation. Dynamisch bedeutet dabei, dass Strukturen sich laufend und von innen heraus an die sich verändernden Bedürfnisse anpassen. Soziokratische Organisationen zeichnen sich durch schnelle Entscheidungsfindung, ein hohes Mass an individueller und kollektiver Verantwortung sowie die systematische Integration der Gestaltungskraft ihrer Mitglieder aus.

Unter dem kecken Namen Sociocracy 3.0 (oder kurz, S3) besteht seit 2016 ein Leitfaden für effektive Organisation auf jeder Stufe, der sich seither intensiv weiter entwickelt. Er präsentiert sich als Sammlung bewährter Muster agiler Zusammenarbeit, die folgendes Ziel verfolgen: Den Aufbau der dynamischen Strukturen zur bewussten Gliederung der organisatorischen Entscheidungsgewalt unter gleichberechtigtem Einbezug des Wissens und der Bedürfnisse aller betroffenen Mitglieder.

Das ist eine lange Bestellliste. Vielleicht erstaunlich ist daher die hohe beobachtete Handlungs- und Reaktionsfähigkeit so geführter Organisationen. Ein Schlüssel dazu heisst Konsent-Entscheidung und ist weit mehr, als die Abstimmungsregel, als die er kurz beschrieben werden kann: Ein Vorschlag wird angenommen, wenn keine der Betroffenen ein Argument vorbringt, das unerwünschte Auswirkungen seiner Umsetzung plausibel macht*. Das verschafft Teams und ihren Mitgliedern neue Grade der Handlungsautonomie.

Der Grundbaustein soziokratischer Organisation ist der Kreis als teilautonomes Team, das sich und seine Arbeit selbst organisiert. Das organisatorische Grundprinzip lautet Navigiere nach Spannung und beschreibt einen Ablauf, Veränderungsbedarf zu erkennen, zu beschreiben und zu behandeln.

Einladung zur Veränderung: Von Command-and-Control zur Sociocracy 3.0

Wie kann jetzt eine bestehende hierarchische Command-and-Control-Organisation lernen um agiler, demokratischer und föderalistischer zu werden?

Das Wichtigste zuerst: Anstatt die neue Methode in einem Change-Projekt einzuführen oder direkt als neues Betriebssystem der Organisation zu installieren, basiert S3 auf Einladung. Dabei bilden die bestehende Organisation und ihre Mitglieder mit ihren Bedürfnissen und Beobachtungen die Grundlage aller neuen Strukturen, welche ausschliesslich im Konsent vereinbart werden. Mitsprache bildet somit einen Grundpfeiler der Entwicklung zu einer direktdemokratischen Organisation.

Anders als bei preskriptiveren Modellen, sind alle Muster fakultativ und als Anregung zur Förderung besserer Zusammenarbeit zu verstehen. Das gilt namentlich auch für das Entwickeln und Beschreiben von Kreisen und damit den Aufbau einer dezentralen Entscheidungsstruktur ohne Dienstwege. Ihr Einbezug öffnet den Weg zu föderalistischen Strukturen demokratischer Mitbestimmung in allen Firmen und Organisationen, die sich aus den Einschränkungen zentraler autokratischer Steuerung befreien und Räume für gute Arbeit schaffen möchten.

Möchtest auch du dein Unternehmen in die Zukunft führen? Dann melde dich jetzt für unsere nächsten agilist. first tuesday Events an!

Autor

Timo Bezjak

Newsletter abonnieren

* Pflichtfeld

Intuit Mailchimp